Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
PRESSEMITTEILUNG Nr. 7 vom 03.02.2021

Asyl Afghanistan: Abschiebungsverbot für alleinstehende gesunde Männer im arbeitsfähigen Alter ohne soziales oder familiäres Netzwerk und ohne Vorliegen sonstiger begünstigender Umstände

Derzeit darf auch ein alleinstehender, gesunder und arbeitsfähiger, erwachsener Mann regelmäßig nicht nach Afghanistan abgeschoben werden, weil es ihm dort angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen infolge der COVID-19-Pandemie voraussichtlich nicht gelingen wird, auf legalem Wege seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene zu befriedigen. Anderes gilt dann, wenn in seiner Person besondere begünstigende Umstände vorliegen. Dies kann etwa der Fall sein, wenn der Rückkehrer in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt. Das hat der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg mit einem jetzt zugestellten Urteil vom 17. Dezember 2020 entschieden. Damit hat die Klage eines Asylbewerbers in der Berufungsinstanz insoweit Erfolg, als es um die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots in Bezug auf Afghanistan geht.

Der aus Afghanistan stammende Kläger war im Frühjahr 2016 ins Bundesgebiet eingereist und hatte hier einen Asylantrag gestellt. Seine gegen den ablehnenden Asylbescheid erhobene Klage hatte das Verwaltungsgericht Sigmaringen abgewiesen. Im hierauf durchgeführten Berufungsverfahren ging es allein um dieFrage, ob der Kläger nach Afghanistan abgeschoben werden darf oder ob für ihn ein Abschiebungsverbot besteht.

Der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs hat im Berufungsverfahren in einer mehrstündigen mündlichen Verhandlung eine Sachverständige zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Lebensbedingungen in Afghanistan, insbesondere in der Hauptstadt Kabul, befragt. Hierzu hatte die Sachverständige dem Senat zuvor bereits ein schriftliches Gutachten vorgelegt.

In seinem auf die mündliche Verhandlung ergangenen Urteil hält der 11. Senat zumindest vorerst nicht mehr an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, wonach einem leistungsfähigen, erwachsenen Mann – unabhängig davon, ob er vor Ort über ein aufnahmebereites und tragfähiges, familiäres oder soziales Netzwerk verfügt – in Afghanistan in der Regel nicht die Verelendung droht. Nach Würdigung der Ausführungen der Sachverständigen und Auswertung einer Vielzahl von Erkenntnismitteln ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass sich inzwischen die wirtschaftliche Lage in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie derart verschlechtert hat, dass ein Rückkehrer aus dem westlichen Ausland keine realistische Aussicht hat, auf dem Tagelöhnermarkt eine Arbeit zu finden, sofern er nicht vor Ort über ein familiäres oder soziales Netzwerk verfügt, das ihm Zugang zum Arbeitsmarkt verschafft. Ohne die Erzielung eines Erwerbseinkommens und ohne versorgendes Netzwerk oder ausreichendes Vermögen ist die Sicherung der eigenen Existenz in Afghanistan indes nicht möglich. Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Klägers ist der Senat nach diesen Maßstäben zu der Überzeugung gelangt, dass in seinem Fall ein Abschiebungsverbot festzustellen ist.

Die Revision zum Bundesverwaltungsgericht wurde nicht zugelassen. Die Nichtzulassung der Revision kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des schriftlichen Urteils durch Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig angefochten werden (Az. A 11 S 2042/20).